Meike Sasse – Nach „Muttersprache Mameloschn“ ist es das zweite Mal, dass wir einen Text von Sasha Marianna Salzmann im Spielplan haben. Einfühlsam, doch ohne jede Verklärung verwebt Salzmann in „Im Menschen muss alles herrlich sein“ die Lebensgeschichten von Menschen, erzählt von nostalgischen Lebenslügen und vom Ringen um Neuanfänge. Es werden Biografien gezeichnet, die von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen diktiert werden. Franziska, was hat dich an diesem Roman, der 2021 erschienen ist und dieses Jahr mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde, sofort begeistert, so dass du ihn in Konstanz realisieren wolltest?
Franziska Autzen – Seit ich den Debütroman „Außer sich“ von Sasha Marianna Salzmann gelesen habe, bin ich ein großer Fan und wollte unbedingt einen Text von Salzmann verwirklichen. Die Erzählungen zeigen die Härte des Lebens, doch sind sie mit einer wunderschönen Poetik verwoben. Salzmann ist eine politische und mutige Stimme, die Figurenzeichnung ist sehr ausgeprägt und liebevoll. Die Figuren sind Held*innen des Alltags oder Außenseiter*innen, sie sind nicht immer sympathisch, sondern haben Ecken, Kanten, Reibungen. Salzmann schreibt, denkt, spricht in mehreren Sprachen und das generationsübergreifend – ja, universell. Wir alle stehen in einem
Geflecht von familiären Beziehungen, wir alle haben eine Mutter. Und auch die Themen Flucht und Migration haben einen universellen Charakter.
Meike Sasse – Wie du sagst, der Roman besitzt eine enorme literarische Kraft, die Figuren sind lebendig und voller Geheimnisse, der Rhythmus stimmt. Wie überträgt man dies auf die Bühne?
Franziska Autzen – Die Hauptfrage war: Wie viel erzählen wir vom Roman? 20-30%? In der Verknappung ist es wichtig, einen eigenen Rhythmus, eine eigene Dynamik des Erzählens zu finden. Musik, die Bühne, das Licht sind da wichtige Elemente für das
Tempo. Ich versuche, fast filmisch den Stoff umzusetzen.
Meike Sasse – Im Zentrum stehen zwei jetzt 50-jährige Frauen – Lena und Tatjana – und ihre Töchter Edi und Nina. Deren Geschichte beginnt in den 1970er Jahren in der sowjetischen Ukraine mit Lena. Ein Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, das Schwierigkeiten mit der strengen, kühlen Mutter hat. Und es gibt die Großmutter, bei der alles gut ist. Die Großmutter bedeutet das Schwarze Meer und Zuckerwatte. In den 1990er Jahren, nach der Perestroika, gehört sie als Ärztin dann zu den im Sozialismus Bessergestellten.
Franziska Autzen – Ja, und sie bemerkt, dass auch nur die Bessergestellten in ihre Praxis kommen. Und nicht die kranken, alten, armen Menschen. Als sie dann selbst betroffen ist und ihrem Baby trotz Bestechung nicht geholfen wird, weil Medikamente fehlen, beschließt sie auszureisen. Sie landet mit Baby und Mann in Jena, wo sie bald auf Tatjana und deren Baby trifft, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland kommen. Die beiden Frauen freunden sich an. Tatjana ist Tänzerin, aber jegliche Kulturangebote wurden nach der Perestroika gestrichen und sie musste als Kellnerin arbeiten. Die Arbeitslosigkeit war groß zu der Zeit und die Kriminalität hoch. Sie wird schwanger von einem Deutschen, der sie unter widrigen Umständen nach Deutschland bringt und schließlich dort sitzen lässt.
Meike Sasse – Das ist die große Parallele zwischen den beiden Frauen: Sie werden ungeplant schwanger, die Väter sind keine Lebenspartner, sondern verschwinden. Beide spült es um die Nullerjahre nach Deutschland, wo das Leben noch einmal neu beginnen soll. Und Lenas Tochter Edi versucht später, diese Lebensgeschichten zu verstehen. Sie will Journalistin werden, Fragen stellen und ausbrechen aus dem Schweigen. Tatjanas Tochter wiederum zieht sich zurück, hält es kaum in Gesellschaft aus.
Franziska Autzen – Mütter und Töchter sind bei Salzmann aneinander gekettet und schauen doch aneinander vorbei.
Meike Sasse – Salzmann hat für den Roman viel recherchiert, viele Gespräche geführt, u.a. mit der eigenen Mutter und deren Freundinnen. Salzmann ist 1985 in Wolgograd geboren und in Moskau aufgewachsen. Mit zehn Jahren kam Salzmann zusammen mit der Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Salzmann hat diesen Text geschrieben, um etwas über die eigene Geschichte herauszufinden.
Franziska Autzen – Ja, auch in „Außer sich“ ist die Figur Ali ein Alter Ego von Salzmann. Ich denke immer, dieser Vorgang ist wie der Versuch, die Welt durch das Ich und die eigene Geschichte ein Stück weit zu verstehen. Salzmann versucht, über die Menschen etwas über die Sowjetunion, über ein System, das viele Menschen geprägt hat, herauszufinden und sich dem anzunähern, was selbst nicht erlebt wurde.
Meike Sasse – 50 Jahre ist Salzmann in der Geschichte zurückgegangen. Die Fakten sind nicht verifizierbar, die Sowjetunion als Staat existiert nicht mehr, Archive sind unzugänglich, Erinnerungen an die Zeit sind unzuverlässig, durch Staatspropaganda verfälscht. Salzmann hat gesagt, dass wir unterschiedliche Versionen einer Sowjetunion erleben, wie sie wahrscheinlich nie war. Das heißt also, die historischen Ereignisse sind die Bühne, auf der sich die Figuren bewegen. – Wie ist es für dich, an einen solchen Stoff heranzugehen und selbst eine ganz andere Biographie zu haben. Wie hast du dich den Themen angenähert?
Franziska Autzen – Edi sagt an einer Stelle: „Ich kann da nicht hinreisen, in die Vergangenheit, ich kann nicht wissen, wie die Ukraine früher war, ich kann nur Leuten zuhören und danach schreiben. Ich habe es wenigstens versucht.“ Ich war zunächst verunsichert. Sowjetunion, Perestroika, Ukraine. Nicht gerade ein Feld, auf dem ich mich auskenne. Ich habe ebenfalls eine ukrainische Student*in interviewt, Berichte gelesen, Dokumentationen geschaut. Einen guten Einblick hat mir das Buch „Die längste Buchtour“ von Oksana Sabuschko gegeben. Um dann zu merken, dass das alles nicht ausreicht … Ich habe es letzten Endes wie Salzmann gemacht: Mich über die Menschen angenähert. Über die Familie. Über Empathie.
Meike Sasse – Edi erweist sich als Katalysator des Quartetts. Als Journalistin hat sie zugleich die schärfste Beobachtungsgabe. Du beschreibst in der Probenarbeit, dass Edi für dich die Identifikationsfigur ist. Welche Rolle spielt sie in der Figurenkonstellation?
Franziska Autzen – Da ist die Theaterfassung ganz anders als im Roman. Im Roman gibt es fast so etwas wie vier Erzählerstimmen. Lena, Tatjana, Edi und Nina – alle haben ihre Kapitel. Im Stück begleiten wir Edi auf ihrem Roadtrip von Berlin nach Jena, auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familie. Ich schätze, Edi ist ungefähr 25 Jahre alt. Ich erinnere mich, wie erwachsen ich mich in dem Alter gefühlt habe und dachte, mir kann keiner was vormachen. Erst mit zunehmendem Alter sehe ich, wie wenig ich damals wusste. Edi ist in Deutschland aufgewachsen. Genau wie ich. Über Kriege, über die Geschichte erfährt sie im Internet. Sie hat sie nicht erlebt. Genau wie ich. Indem ich mich gemeinsam mit Edi auf den Weg mache, ich mich öffne, auf ein Thema einlasse, mehr erfahre, zuhöre, mitreise, wachse ich.
Meike Sasse – Salzmann konzentriert sich auf das Menschliche. Die Hauptfiguren haben allesamt mit Verlusten zu kämpfen. Die Mütter geraten zwischen die Mühlsteine eines Systemwechsels, die Töchter müssen in der Bundesrepublik die Entwurzelung der Eltern verkraften. Was bedeutet das? Was sind das
für Beziehungen?
Franziska Autzen – In erster Linie erleben wir stumme und vorwurfsvolle Beziehungen. Mütter und Töchter haben nicht gelernt, miteinander zu sprechen. Sie sprechen aneinander vorbei und sind nicht wirklich in der Lage zu formulieren, was sie voneinander brauchen. „Wenn du weiterkommen willst, musst du wissen, was hinter dir liegt“ hat Sasha Marianna Salzmann in einem Interview gesagt. Die Töchter wissen nicht, was die Mütter erlebt haben und die Frage ist auch, ob sie es wissen wollen und es ertragen. Andersherum wissen die Mütter nichts über die Realität der Töchter. Sich gegenseitig zuzuhören, wäre der erste Schritt für eine gemeinsame Sprache. Und möglicherweise geht es auch darum, die richtigen Fragen zu stellen. Aber – und da ist auch Edi ratlos – „wie fragt man, wenn man nicht genau weiß, wonach man fragen will?“
Meike Sasse – Ich möchte dich noch nach dem Titel des Romans fragen. Mit „Im Menschen muss alles herrlich sein“ zitiert Salzmann „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow. Worauf wird damit verwiesen?
Franziska Autzen – Das ist eine alte russische Redensart, wobei Salzmann, dass Wort „schön“ durch „herrlich“ ersetzt hat. Es ist wie eine Aufforderung. Etwas, was noch nicht schön oder herrlich ist, muss es aber sein. D.h. im übertragenen Sinne: Du musst dich nur anstrengen und dein Bestes geben, dann wirst du herrlich werden. Im Buch ist Lena die Beste und Fleißigste in ihrer Klasse, aber ihre Mutter muss Bestechungsgelder zahlen, damit sie einen Studienplatz bekommt. Der Glaube daran, dass man es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann, wenn man nur hart genug dafür arbeitet, erscheint in korrupten Systemen nichts als eine zynische Farce zu sein.
Meike Sasse – Von Salzmann stammt der Satz: „Kontrollverlust ist das Schönste am Schreiben.“ Wie hältst du es mit dem Kontrollverlust? Gilt das auch fürs Regieführen?
Franziska Autzen – Salzmann hat auch gesagt: „Für mich ist Schreiben eine Art Schreien.“ Mit dem Satz kann ich mich besser identifizieren. Ich versuche, über meine Regiearbeiten und die Themen, die ich bearbeite, eine Stimme zu finden. Eine Haltung und Lautstärke. Kontrollverlust kann ich mir eher in einem privaten intimen Raum vorstellen oder als Schauspieler*in auf der Bühne, wenn es einen davon trägt. Oder ja, wenn ich als Autor*in stundenlang in einer Geschichte versinke und nicht merke, wie die Stunden vergehen. Da muss ich als Regisseurin viel zu wach und aufmerksam bleiben, um zu sehen was im Raum geschieht. Da sind zu viele Menschen dran beteiligt.